Der Sauhaufen der Puppenbühne Wittenberg.

Wie der Direktor der Puppenbühne des Elbe-Elster-Theaters Lutherstadt Wittenberg, Herr Jochen Baron, das Stück „Tonga und die Räuber“ nach dem Gastspiel in Gräfenhainichen beurteilte und uns Spieler vergatterte.

Das Tourneefahrzeug der Puppenbühne war ein seltsames Lieferfahrzeug. Vorn zwei Sitze und hinten ein Kasten mit einer Tür und ein paar Fenstern. Die Automarke hatte ich nie rausgekriegt. Es war blau angestrichen und hatte Ähnlichkeit mit einem Russenfahrzeug aus Turkmenistan. Es könnte auch sein, ein ehemaliger Schweinetransporter eines Tierzuchtbetriebes aus Leipzig – Stötteritz gewesen zu sein. Die Bühnenausstattung, die Puppen und Requisiten wurden verladen und wir vier Puppenspieler, Helga, Gabi, Thomas und ich quetschten uns zwischen den Theaterkrempel. Stupsi, der Direktor, nahm vorn neben dem Fahrer Peter Platz. Während der Fahrt vertrieben wir uns die Zeit mit Witzeleien und trafen gut gelaunt am Spielort in Gräfenhainichen an.

Das Gastspiel fand in einem Saal einer Gaststätte statt und die Aufbauarbeiten gingen problemlos vonstatten. Stupsi prophezeite eine Vorstellung bleibender Erinnerung, und nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Kneipe auch nach unserer Veranstaltung noch Alkohol ausschenkte, stellte er uns ein gemütliches Beisammensein auf seine Kosten nach dem Gastspiel in Aussicht. So dachte ich nur noch an Bier.

Es dauerte nicht lange und der Saal war brechend voll. Mehrere Schulklassen der Unterstufe waren angerückt und machten ausgiebig Lärm, was wir vor den Vorstellungen so liebten. Peter entfachte rechts und links im Saal zwei Scheinwerfer und sofort trat spannungsgeladene Ruhe ein. Stupsi erklomm die Vorbühne und hielt seine Festansprache. Gleich kam die wichtigste Szene, die seinem Prolog die bekannte Würze gab: die beiden Räuber traten auf. Eine wilde Schießerei begann, die Schießpulverschwaden umnebelten den Sprecher und Stupsi verwandelte sich zur Freude der Kinder in einen Schneemann. Das hatte er schon einmal während einer Hauptprobe in Gegenwart des Intendanten erlebt. Mit dieser Neuauflage konnte er jedoch nicht rechnen, da eigentlich die Sterne infolge seiner Kneipeneinladung günstig für ihn stehen mussten.

Nun, im richtigen Spielspaß gelandet, erlebte das Stück eine Spielvariante, die Stupsi sich noch nicht einmal in den kühnsten Träumen hätte einfallen lassen können. Wir schrieben durch Improvisation das Stück um, ohne dabei den roten Faden zu verlieren. Der eine Räuber war der Anführer und ich spielte den selten blöden „Ali“, mit einer Dummensprache, die den Kindern besonders gut gefiel. Ali stand im Mittelpunkt der jungen Zuschauer. Während des Theaterstücks spielte Ali und sein Kollege „Such mich mal !“ zur ausgelassenen Freude der Kinder. Zwar ging das Stück weiter, doch schaute Ali zwischendurch immer mal wieder an den unmöglichsten Stellen hinter dem Paravent hervor, was sofort ein Kreischen der Kinder zur Folge hatte. Als der Räuberhauptmann Ali auf eine wichtige Sache aufmersam machte, fragte Ali: „Wo denn ? Wo denn ?“, wie es das Stück vorschrieb. Doch anstatt sich rechts und links umzublicken, rotierte Ali mit seinem Kopf um die eigene Achse. Die Kinder schrien‘ vor Begeisterung und es gab sogleich Zugaben.

Nach der Veranstaltung, die ungefähr zehn Minuten länger als vorgesehen ging, kam eine Lehrerin zu mir, die mich kannte. Das Gastspiel war in einem Gespräch nach meiner pantomimischen Solovorstellung „Lacht mit !“ abgesprochen worden. Die Lehrerin war voll des Lobes:
„Herr Raedel, wir sind restlos begeistert. Mit welch‘ unkonventioneller Frische die Spieler bei der Sache waren und wie sie die Kinder einbezogen, war ganz wunderbar. Kommen Sie recht bald wieder !“
Wir erhielten eine glanzvolle Beurteilung.

Während des Abbaues des Bühnenbildes und der Requisiten war Stupsi nicht zugegen. Thomas meinte: „Hoffentlich hat der sich nicht aufgehängt !“
„Der spült seine neuesten Erlebnisse in der Kneipe runter !“, sagte ich.
Als alles verladen war, betraten wir den Gaststättenraum, wo Stupsi bereits einen Tisch für uns reserviert hatte. Wir bestellten alle Buletten mit Kartoffelsalat und ließen es uns schmecken. Am Tisch herrschte die Ruhe vorm Sturm. Als wir unsere Getränke bestellt hatten, durchbrach Stupsi das Schweigen mit einem Schrei: „Das war Schmiere !!!“

Sofort drehten sich alle Gäste in unsere Richtung und Stupsi fuhr fort:
„Welch‘ ein abscheuliches Affentheater ! Das habe ich in meiner gesamten Theaterlaufbahn noch nicht erlebt. Ihr habt mich bis auf die Knochen blamiert ! Ihr habt meine Puppenbühne besudelt ! Ihr seid erbärmliche Bühnenstümper, eine Truppe von laienhaften Nichtskönnern ! Und du, Raedel, bis der Rädelsführer und hast den Haufen infiziert ! Nee, nee, das war das Allerletzte ! Und ihr Mädels seid keinen Schlag besser !“

Ich überreichte Stupsi wortlos die schriftliche Beurteilung der Lehrerinnen und er rieb sich fassungslos seinen schwarz gefärbten Bart:
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr ! Die müssen sich verschrieben haben !“ Er stand auf und stampfte zur Theke: „Wo ist’n die Toilette ?“

Stupsi hatte eine Zigarrenpappschachtel sich parat gelegt und wir präparierten in aller Eile eine Zigarre mit Schwefelkuppen von Streichhölzern, holten Tabak raus, stopften die Kuppen rein und wieder Tabak drüber. Die Zigarre kam wieder in die Packung und zwar so, dass sie etwa zwei Zentimeter aus der Packung lugte. Stupsi kam zurück.

„So, Kinders ! Ihr wisst nun was Fakt ist und ich trage euch nichts nach. Lassen wir die Sache ruhn. Herr Wirt, fünf Pils bitte !“
Stupsi beruhigte sich und griff die richtige Zigarre. Liebevoll schauten wir zu, wie er sich die Zigarre ansteckte und warteten gespannt ab.
„Eure Zigaretten sind gedrehte Proleten. Diese Zigarre hingegen ist etwas Edles !“ Das Bier kam und Jochen sagte laut: „Ein Prost auf die Versöhnung !“ Wir stießen mit ihm an und tranken einen Schluck. Er zog erneut an der Zigarre und meinte: „Die Welt der Komödianten ist ein Geheimnis !“ Er sog Luft an der Zigarre an und eine unwahrscheinliche Stichflamme blendete seine Brille. Er schlug die Zigarre hastig im Aschenbecher rum und die Gäste brachen in ein schallendes Gelächter aus.
Wir lachten mit den Gästen um die Wette, und plötzlich bekam unser Stupsi ebenfalls einen Lachkrampf, so dass die Kneipenstimmung einem Lachkabinett glich. Er zündete sich eine neue Zigarre an und fragte: „Sind noch mehr präpariert ?“

„Nein, Stupsi, lediglich in einer steckt noch ’ne Ladung Dynamit !“

LG Dieter Raedel