Eine Ohorner Kindheitsgeschichte von Prenzlmaler Dieter Raedel. Der Name der hier beschriebenen alten Dame wurde geändert.
In den Waldhäusern von Ohorn, jetzt Silberweidenstraße, hatte sich gegenüber der Abzweigung Erdbrückenweg und dem unteren Teil der Gärtnerei eine ältere Dame niedergelassen, die man schlicht und ergreifend “Die alte Tietzen” nannte. Hinter einem kleinen Garten und einer alten Pumpe war eine Art Schrumpfhaus zu finden, das nur aus einem Erdgeschoss bestand und in dem links die Familie meines Freundes Jürgen und rechts die ewig unzufriedene Frau Tietze wohnte. Hörte sie Kinderstimmen, war’s mit ihrer Ruhe und Glückseligkeit vorbei, da Jürgen in ihrer Nähe täglich nach unartiger Vollkommenheit strebte.
Wir schreiben das Jahr 1950. Mitten im Sommer kurz nach dem Mittagsschläfchen öffnet die alte Tietzen die Fenster, blickt nach rechts und links und kann keine sie aufregende Quelle entdecken. Der Sommertag scheint sich für sie von der netten Seite zu zeigen. In stiller Zufriedenheit macht sie sich ein Käffchen und denkt ausnahmsweise nicht über die Nachbarsfamilie nach, die sie seit langer Zeit auf dem Kieker hat. Nicht nur das Kindergeschrei stört sie, da waren noch die vielen Vogelkäfige mit ihren Bewohnern. Das Gepiepse ging früh los und endete erst spät abends. Obwohl sie etwas schwer hörte, gelangten die Töne der oberen Etage unverfälscht in ihre Hörwindungen. Heute war es erträglich, die Fenster der Nachbarn waren geschlossen.
Frau Tietze war eine ausgemachte Liebhaberin von Blumen, die sie wie Familienmitglieder liebevoll behandelte. Näherte sie sich den Pflanzen, begannen ausladende Gespräche. Die Blumen verstanden anscheinend ihre Worte und fühlten sich bei ihr wohl. Im Sommer entfaltete sich ihre Blumenpracht in grünen Blumenkästen auf den Fenstersimsen. In diesem Jahr fiel das Angebot eher bescheiden aus. Auf dem einen Sims spross in einem Blumennapf nur eine Blüte, dieweil in der Kastennachbarschaft Petersilie angebaut wurde. Für ihre Küche war es von Vorteil, diese Kräuter anzubauen.
Diese eine Blume auf ihrem rechten Fenster war eine Kamelie, die sie während des Winters auf einem Stuhl unterm Dachfenster über die Jahreszeiten gebracht hatte. Frau Tietze wusste um die Empfindlichkeit der Blume. In diesem Jahr gab es erstaunlicherweise nur zwei Blüten. Eine davon war bereits Geschichte, sie gab ihren Geist vorschnell auf. Nun umsorgte Frau Tietze als Kameliendame diese eine verbliebene Blüte mit allergrößter Hingabe.
Sie schritt ehrfurchtsvoll ans Fenster und schaute forschend durch ihre Brille, knipste zwei Blätter ab und suchte längere Zeit nach Schädlingen. Ihr Einsatz als Schädlingsbekämpfungsmaschine war nicht erforderlich, alles wuchs im grünen Bereich. Sie holte sich einen Stuhl ans Fenster und begann ganz lieb mit der Kamelienblüte zu sprechen, wobei sie ihren Kopf mal rechts und mal links andachtsvoll seitlich neigte. Diese Idylle schien einem Gemälde von Spitzweg entnommen zu sein.
Nebenan hinterm Zaun des angrenzenden Grundstücks brachte sich Jürgen mit einem Katapult in Position und erklärte mir sein gewaltiges Vorhaben. Er suchte nach einem mittleren Stein, der ihm als Geschoss sogleich wertvolle Dienste leisten würde. Der Stein wurde ausfindig gemacht und im Militärlager machte sich gespannte Ruhe breit. Indes sah man, wie die Kameliendame mit einer kleinen roten Blumengießkanne die einblütige Pflanze goss und danach verschwand. Jürgen spannte den Gummi seines Katjas, zielte und kurz danach war bei Frau Tietze nur noch ein einsamer Stengel zu sehn. Schnell machten wir uns aus dem Staube, rannten auf die andere Straßenseite und versteckten uns hinter einem Sandhaufen.
Jetzt trat Frau Tietze erneut ans Fenster, beugte sich zur Kamelie und begann krampfhaft zuckend rumzunörgeln. Schimpfend putzte sie ihre Brille und nahm den Blumentopf in die Hand, um die Pflanze aus der Nähe zu inspizieren. Es blieb beim ersten Überprüfungsresultat, die Blüte war weg. Unter lautem Groll verschwand das Mütterchen samt Kamelienstengel in ihrem Zimmer. Es dauerte nicht lange und Frau Tietze suchte die Gegend in unmittelbarer Nähe ihres rechten Fensters ab. Nirgendwo eine Spur ihres Lieblings. Als wir später unschuldig auf der Straße erschienen, stand als trauriger Ersatz ein Gartenzwerg im Fenster. Somit war die heile Spitzweg-Idylle wieder komplett.
Gruß Prenzlmaler.