Nachrufe: Dieter Raedel (Geb. 1950)
Er malte sie und war von nun an Maler
Wenn er geahnt hätte, dass in seinem Nachruf stehen würde „Er war ein Original“ – es hätte ihn gefreut. Darauf hat er es angelegt, die letzten 15 Jahre lang.
Ein Pariser Stadtmaler wollte er sein, nur nicht in Paris, sondern in Berlin, Prenzlauer Berg. Er setzte sich eine Baskenmütze auf, klemmte sich die Staffelei unter den Arm und zog los, zeichnete die Postkartenmotive seines Stadtbezirks, den Wasserturm, die Schönhauser Allee, den Helmholtzplatz, so gut, dass ein jeder ein jedes sofort erkannte. Und er nannte sich „Prenzlmaler“.
Man mag das nicht sehr originell finden, seine Bilder waren es bestimmt nicht, Zeichnungen zumeist, manchmal Aquarelle, selten Öl, weil Ölfarbe teuer ist.
Aber er gehörte doch hierher, nach Prenzlauer Berg, original hierher. Zur DDR-Zeit konnte er privatisieren, das heißt, er trat mal hier auf und mal da, als Pantomime im Zirkus und als Clown in Kindergärten. Über die Runden kam er, davon ist auszugehen, ohne große Mühe. Mit dem Ende der DDR kam das Ende der Prenzlauer-Berger Nischenkultur, die Häuser wurden hübscher und das Leben teurer. Dieter Raedel versuchte es noch ein paar Jahre mit der Clownsnummer, aber es lief nicht mehr so gut.
Wie er zur Malerei kam, weiß man nicht genau. Er erzählte die Geschichte von der Muse: Er bewunderte eine schöne junge Frau, und als er sich als Maler offenbarte, zog sie sich für ihn aus. Er malte sie, und war von nun an Maler. Das wird so Mitte, Ende der Neunziger gewesen sein.
Dieter Raedel wohnte in der Greifenhagener Straße, mitten in Prenzlauer Berg, eine Minute Fußweg zur Gethsemanekirche, an der die Touristenbusse vorbeifahren, wenn so viel Zeit ist, und wo es heißt, dass hier die Revolution stattfand, 1989. Um die Ecke befindet sich der S-Bahnhof Schönhauser Allee. Dort, auf der Brücke, hängte Dieter Raedel seine Bilder ans Geländer. Und weil unten nicht die Seine floss sondern die S-Bahn fuhr, wunderte sich niemand, auf ihnen Gethsemane statt Sacré-Cœur zu sehen. Dann riss die neue Zeit den alten Bahnhof ab und stellte dort, wo Raedels Geländer war, ein Einkaufszentrum hin, das auch in Hamburg oder Wanne-Eickel stehen könnte.
Für Dieter Raedel war das praktisch, denn so kam er auf die Idee, bei der Gethsemanekirche anzufragen, ob er seine Bilder nicht an ihrem Zaun anbieten dürfe. Er stellte sich als frommer Mann vor, seine Bilder waren ordentlich und hatten Lokalkolorit, es gab auch welche von der Christusstatue vor der Kirche – da war nichts einzuwenden. Nur das Ordnungsamt ermahnte ihn, weil er anmeldungslos den Gehweg als Ausstellungsfläche nutzte. Folgen hatte das nicht.
Sein Arbeitsweg zur Galerie betrug nun knappe hundert Meter. Der Weg zur Staffelei war kürzer, denn seine Wohnung, oder besser: sein Zimmer war sein Atelier. Darin war nichts als eine alte Couch, auf der er schlief, ein Bücherregal mit ein paar Kunstbänden und seine Bilder. Man könnte das, die Wohnung und sein Leben, bohémienhaft nennen. Oder auch armselig.
Einer aus der Straße, mit dem sich Dieter Raedel gut verstand, sagt: „Der war zufrieden mit seinem Leben. Das hat er so gesagt, und er ist der Einzige, dem ich das glaube.“
Wovon der Maler lebte? Von seinen Bildern kaum. Er verkaufte sie für wenig Geld und eher selten. Also von Stütze, wovon sonst. Er war ein alter Prenzlauer- Berg-Bewohner; solche haben im Gegensatz zu den neuen Prenzlauer-Berg-Bewohnern keine Geldreserven.
Immerhin war seine Miete günstig, er hat ja schon so lange hier gewohnt. Und konnte, als er nicht mehr so gut zu Fuß war, vom zweiten Stock in die Ladenwohnung parterre ziehen.
Vor drei Monaten ist er gestorben, am Krebs, und sein Laden, so nah bei der Kirche, an der, wie sie sagen, die Revolution stattfand, ist renoviert und darf jetzt angemietet werden. Für das Dreifache des alten Preises. Einer wie Dieter Raedel könnte sich das nicht leisten, denn das war er wohl: ein Original. Und Originale sind seit jeher dazu verurteilt auszusterben. (Quelle: Der Tagesspiegel 12.02.2012, Autor: David Ensikat)
Dieter: Du fehlst!