Der grausame Krieg war vorbei und wir Kinder hungerten. Langsam gewannen die Menschen neuen Lebensmut, doch es fehlte an den nötisten Dingen des Lebens. In meinem Heimatort Ohorn am Fuße der Oberlausitz, wohnten wir zur Untermiete in einem recht beschaulichem Haus. Die Hauseigentümerin besaß ein kleines Grundstück, das sich zirka 60 Meter entlang der abfallenden Straße ausdehnte, wo ein Einfahrtsweg zu einer Gärtnerei das Anwesen unterbrach. Das restliche Stück, eine kleine Wiese, befand sich unterhalb des Gärtnereiweges. Das Grundstück war eine mit Obst-und Kirschbäumen bepflanzte Wiese und gegenüber der abfallenden Straße erhöht. Bevor man vom Rasen die Straße erreichen konnte, musste man einen tiefen Straßengraben durchqueren oder diesen Weg benutzen.
Gegenüber dem unteren Auslauf des Anwesens befand sich die „Gaststätte Silberweide“ oder wie es später in großen Lettern zu lesen war: „Gasthof zur Silberweide“. Rechts und links des gepflasterten Anfahrtplatzes der Dorfgaststätte standen zwei riesige Silberweiden, die in der heutigen Zeit der Straße den Namen gaben: Silberweidestraße. Langsam wurden die Kriegsschäden beseitigt und der „Kegelraum“, dem sich eine Kegelbahn anschloss, erhielt zur Straße hin endlich ein großes, neues Fenster. Man kann die Freude des Gaststätteninhabers gut verstehn und selbst wir Kinder freuten uns über die Veränderung zum Guten hin.
An jenem Tag stand ich mit meinem Klassenkameraden Eberhard, Sohn des Gaststätteninhabers, unter einem Apfelbaum, der sich in unmittelbarer Nähe zum Gärtnereiweg befand. Dieser Baum war berühmt für seine saftigen Äpfel, doch bereits abgeerntet. An einem weit ausladenden Zweig hing zu unserer Überraschung noch ein Apfel. Wir versuchten den Baum zu schütteln, doch unsere kindlichen Kräfte reichten nicht aus, dem Baum den letzten Apfel zu entlocken. Alle Versuche, den Baum zu erklettern, schlugen ebenso fehl. Nirgends konnte eine Stange aufgetrieben werden, um an dieses leckere Exemplar zu kommen. Wir beschlossen, den Ast zu beschießen. Steine gab’s in Hülle und Fülle am Straßenrand. Zwar trafen wir ab und zu, doch der rosige Apfel blieb hängen.
Ich suchte nach einem größeren Stein und war erfolgreich. Jetzt wird’s ihm an den Kragen gehn, der Wucht des Steines wird er nicht widerstehen können. Kurz Anlauf nehmend, schoss ich mit aller Kraft in Richtung Apfel und hörte einen Augenblick später die neue Scheibe des gegenüberliegenden Kegelraumes zerbersten. Eberhard machte sich sogleich aus dem Staube: „Ich war’s nicht. Ich nicht !“
Schwer angeschlagen setzte ich mich an den Gärtnereiweg und dachte über die ständige Zunahme meines Sündenregisters nach. Heulend sah ich die Grundstückseigentümerin auf mich zukommen, die eines ihrer Schafe lospflockte und dem Tier ein neues Terrain unter dem Apfelbaum zu verschaffen. Von der kaputten Scheibe wusste sie noch nichts. Sie ging zurück zu ihrem Haus. Das Schaf schien sich über mich lustig zu machen und ich warf ihm ein losgerissenes Grasbüschel samt Wurzelwerk an sein Fell. Ich schaute weg, weil es mich so dämlich anstarrte.
Mein Blick richtete sich nun zur zerschlagenen Scheibe. Genau in diesem Moment hörte ich ein gedämpftes Aufprallgeräusch: es war der Apfel. Sofort stand ich auf und mein freudiges Empfinden gewann urplötzlich an Fahrt. Aber nicht lange. Das Schaf ging vorn in die Knie, kam so an den Apfel und fraß ihn mit grandiosem Appetit. In diesem Augenblick entgleisten sämtliche meiner Gesichtszüge.
LG Dieter Raedel.