Dicke Rauschwaden durchzogen das Café, alle qualmten, als ob eine Meisterschaft angesagt wäre. Kein freier Stuhl war zu finden und keiner verspürte Lust, den Weg nach Hause anzutreten. Philosophische Konversationen, fades Gemurmel, nette Plaudereien und arge Beschimpfungen wechselten einander ab und sorgten für die altbekannte Atmosphäre. Oben hatten sich einige komische Gestalten mit zwei Tischen vereint und würfelten darum, wer die nächste Runde bezahlen durfte. Als ich verlor, machte ich meinen Freunden eine besondere Freude und bestellte für jeden ein Stück Erdbeertorte mit Sahne. Die spontan einsetzende Ruhe hatte zur Folge, dass man am Nachbartisch die gewichtigen Auseinandersetzungen besonders gut verstehen konnte.
Kurt Mühle dachte an die Torte und verfärbte sich allmählich zur Kalkwand. Das hatte er noch nie in seinem Kneipendasein erfahren können: Torte. Sein Weinglas war leer und eine neue Würfelrunde nicht in Aussicht. Oleg, der Betreiber der Gaststätte, kam lachend an unseren Tisch und überreichte die Überraschungsrunde. Mühle begann seine letzten Zigaretten regelrecht zu verschlingen und betrachtete sein Stück Torte wie eine außerirdische Erscheinung. Während die anderen sich das Zeug reinquälten, konnte Kurt Mühle damit absolut nichts anfangen. Seit einigen Minuten herrschte eisiges Schweigen, als seien sämtliche Lippen der Tortenstückchen wegen lahm gelegt worden. Ich entschloss mich, Mühle aus der Lebensgefahr zu retten und bestellte für ihn seinen Rotwein. Ganz langsam erwachte er wieder zu neuem Leben und begann mit einem Male ganz laut und ergiebig über die anderen zu lachen, da diese sich in der verheerenden Situation befanden, keine Getränke mehr zu haben. Kurt Mühle schob mir seinen Teller rüber, ich aß sein Stück Torte und er begann sich mit mir zu verbünden.
Am Nachbartisch flogen die Gesprächsfetzen durch die Luft und man schrie sich, des besseren Verständnisses wegen, bereits an. Die übrigen Gäste schauten nur noch in deren Richtung. Graf Niedoof holte zu einer üblen Attacke gegen den Dichter Ronald Böhme aus. Oleg kam mit einer Sahnetorte bewaffnet zu deren Tisch und sagte zu Ronald:
„Auf Kosten des Hauses spendiere ich dir diese Torte !“
Gespannt schauten wir alle hin, in der Hoffnung, dass sich sogleich etwas ereignen würde. Ronald holte aus und feuerte Graf Niedoof die Torte mitten ins Gesicht. Der Laden bebte ! Graf Niedoof holte seinen Schirm aus der Ecke und schlug diesen Ronald über den Schädel. Seit diesem Tag nannte man Graf Niedoof nur noch „Kloppstock“, in Anspielung auf F.G. Klopstock. Die philosophierende Berliner Großklappe passte dazu. Es war ein Treffer mitten in die 100. Besser gesagt, ein Doppeltreffer.
Oleg rief die letzte Bestellmöglichkeit vor der Polizeistunde aus und es herrschte wieder Eintracht im Café. 23.45 Uhr war für mich die Zeit am Stutzflügel gekommen und wie immer, eröffnete ich den Melodienreigen mit der westdeutschen Nationalhymne, die inzwischen auch unsere ist. Danach kamen Lieder wie „Oh, du wunderschöner deutscher Rhein“, „Wenn das Wasser im Rhein“ und dergleichen Lieder mehr, die seltsamerweise alle in Westdeutschland angesiedelt waren. Alle sangen kräftig mit und Punkt 24 Uhr wurde der Klavierdeckel geschlossen. Alle gingen beschwingt und froh nach Hause.
Das war wieder ein ganz normaler Szene-Abend im „Wiener Café in der Schönhauser Allee zu DDR-Zeiten im Prenzlauer Berg.
Die Namen „Niedoof“ und „Ronald Böhme“ wurden von mir erfunden, obwohl sich dahinter Leute verbergen, die es tatsächlich gibt.
LG Prenzlmaler Dieter Raedel.
P.S.: Kurt Mühle war ein Berliner Original. Seine Welt war der Rotwein. Er war auch ein Zeichner und Maler, dessen Arbeiten stets mit Rotwein und Asche ihre Gütesiegel erhielten. 1999 landete Kurt Mühle nach seinem Ableben da, wo er hingehörte: Auf den Prominenten – Friedhof Berlins, dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Mitte.