Konzentriert sitze ich auf meinem Klappstuhl und zeichne. Neben mir ein kleiner runder Tisch, dessen Tischfläche auf dem Bürgersteig ruht. Ich drehte ihn einfach rum, damit er einen sicheren Halt besitzt und benutze die kleinere Fläche als Tableau meiner Zeichenutensilien. Das mache ich seit Jahren so. Oben steht ein Keramikbecher, der eine Ähnlichkeit mit einem Eierbecher nicht verleugnen kann, knapp mit chinesischer Tusche
gefüllt. Daneben ein gläsernes Tintengläschen mit Wasser, um stets die Feder reinigen zu können. Beide Gefäße sind mit Malerband am Tisch fixiert, um ein Herabfallen zu verhindern. Wir schreiben Oktober 2007.
Unweit von mir die Open-Air-Galerie an der Gethsemanekirche, die sich am Kirchenzaun die Stargarder Straße entlang zeigt und ein Teil der Bilder in der Greifenhagener Straße, hier aber nur 15 Meter. Christus schaut mir bei der Arbeit zu. Es ist die Christusstatue vor der Kirche. Eine Zeichenunterlage aus Presspappe, worauf sich der Malkarton befindet, liegt auf meinem Oberschenkel. Der Wind kann der Zeichnung nichts anhaben, alle vier Ecken sind gesichert. Unter der Zeichenunterlage eine weitere Pappe, die die Zeichnung abdecken kann, falls jemand von mir etwas möchte und ich meinen Zeichenplatz verlassen muss.
Beim Zeichnen ist man in einer anderen Welt. Die Geräusche von den Autos oder die Passanten der Straße nimmt man kaum noch wahr. Strich um Strich entwickelt sich das Motiv innerhalb des schöpferischen Prozesses. Selten bleiben Fußgänger stehn, um meine Arbeit zu betrachten. Das wäre ja offene Anerkennung und die gilt’s zu vermeiden. Ganz anders die Kinder, die sehr gern mir auf die Finger schaun und mit Lob nicht sparen. Auch
sie zeichnen gern und haben in mir jemanden gefunden, der das auch macht. Obwohl im fortgeschrittenen Alter, geht alles ohne Brille und mit ruhiger Hand vorwärts, in der Hoffnung, dass es noch ein bisschen so bleibt. Aber es gibt auch Ausnahmen, wo man offen gehuldigt wird.
Zart wurde ich von hinten berührt und danach sah ich nichts mehr. Ein weiblicher Busen drückte sanft gegen meinen Hals und längere Zeit spürte ich die weichen Lippen einer Frau auf meinem Mund. Meine Hände hielten das Malzeug. Ich regte mich nicht und ließ es liebevoll über mich ergehn. Nach einiger Zeit ließ sie von mir ab, ging in die Hocke und überreichte mir frische Blüten. Jetzt konnte ich ihr in die Augen blicken: eine bildhübsche junge Afrikanerin.
„Ich hole dir noch ein Schälchen mit Wasser, damit die Blumen nicht verwelken.“
Nach einer Weile kam sie mit einem Pappbecher voll Wasser, stellte die Blumen rein und gab mir ein Abschiedsküsschen. Was sie zu mir noch sagte, möchte ich verschweigen. Auch Worte können ein Schatz sein, den man für sich behält. Lange Zeit standen die Blumen neben meinem PC.
Martin, der mit seiner Frau die Kirche offen hielt, konnte die Szene vom oberen Portal beobachten und fragte mich: „War die besoffen ?“
„Nein, sie roch nicht nach Alkohol, ihr Atem war sauber.“
„In diesem Fall möchte ich auch Maler sein.“
Ich schmunzelte und ging verzaubert an mein Tischchen, um zu zeichnen. Doch im Stillen sagte ich: „Aber wenn es um’s Geldverdienen geht, möchte keiner mit mir tauschen !!!“
LG Dieter Raedel